Entrissene Heimat

Exkursion nach Böckwitz-Zicherie

Am 5. September nahm das Dokumentationszentrum an der Exkursion der Vereinigung für Opfer des Stalinismus (VOS) zum Grenzort Böckwitz-Zicherie teil. Durch die ehrenamtlichen Mitarbeiter haben wir im Rahmen des Rundgangs durch das Grenzdort einen umfassenden Einblick in die Familienschicksale der von Teilung der Orte Betroffenen erhalten und konnten uns durch die Zeitzeugen einen Eindruck der damaligen Erlebnisse machen.

In zwei großen Wellen führte die SED-Regierung im Grenzgebiet der DDR zur Bundesrepublik Maßnahmen zur Zwangsaussiedlung durch. Im Mai und Juni 1952 wurden 8.000 Betroffene zwangsausgesiedelt. Im Rahmen der „Aktion Festigung“ sind 1961 (teilweise bis in die 1980er Jahre) hunderte Menschen ausgesiedelt worden. Insgesamt sind 12.000 Menschen den Maßnahmen zur Zwangsaussiedlung zum Opfer gefallen. 3.000 sollen sich der Zwangsaussiedlung durch Flucht in die Bundesrepublik entzogen haben. Bis zum Mai 1952 wurde die Grenze zwischen beiden deutschen Staaten wegen des provisorischen Charakters als „Demarkationslinie“ bezeichnet. Das Überschreiten der Demarkationslinie war nur mit zuvor bei den Besatzungsmächten beantragten „Interzonenpässen“ über einzelne Kontrollpassierpunkte auf legalem Weg möglich. Die Kontrolle erfolgte durch Soldaten der Alliierten, später durch Angehörige der Deutschen Grenzpolizei, besonders streng auf sowjetischer Seite. Auch wenn die Grenze eine lange Tradition hatte, so war sie innerhalb des Deutschen Reichs kaum von Bedeutung, da familiäre und freundschaftliche Bindungen in die Nachbardörfer über die Demarkationslinie hinweg existierten.

So auch in den Orten Zicherie und Böckwitz die sich an der Grenze vom heutigen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen gegenüber liegen. Zicherie ist ein Ortsteil von Brome im Osten des niedersächsischen Landkreises Gifhorn. Das Dorf Böckwitz liegt ca. 15 Kilometer westlich der Stadt Klötze und gehört zum Altmarkkreis Salzwedel. Mit der Einrichtung der Sowjetischen Besatzungszone begann trotz räumlicher Nähe der beiden Orte bereits die Trennung. Kindern aus Zicherie war es fortan verboten, die Schule in Böckwitz zu besuchen. 1952 wurde die Grenze als Reaktion der DDR auf den Abschluss des Deutschland-Vertrages größtenteils abgeriegelt, einige grenznahe Häuser in Böckwitz wurden abgerissen. Nachbarschaftliche Beziehungen waren nun nicht mehr möglich. Wie die Zeitzeugen des Grenzmuseums Böckwitz-Zicherie berichteten, fielen einige Familien aus dem Grenzort der Zwangsaussiedlung im Rahmen der Aktion „Ungeziefer“ 1952 des MfS zum Opfer. Für Sachsen-Anhalt kann die angeordnete Aussiedlung in zwei Wellen eingeteilt werden. Am 29. und 30. Mai 1952 wurden insgesamt 1.252 Personen aus dem Kreis Osterburg (178) in den Kreis Kölleda, aus dem Kreis Salzwedel (227) in den Kreis Delitzsch, aus Kreis Gardelegen (225) in den Kreis Herzberg, aus dem Kreis Haldensleben (117) in den Kreis Zerbst, aus den Kreisen Oschersleben (287) Wernigerode (158) in die Kreise Torgau und Querfurt transportiert. Die Maßnahmen in der DDR wurden unter Leitung der Deutschen Volkspolizei von einem Stab aus Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes und SED-Funktionären durchgeführt; aber auch durch lokale Bürgermeister, Verwaltungsangestellte, Feuerwehrleute und Bahnhofsangestellte vorbereitet, umgesetzt und ausgeführt. Sogar der Nachbar, dessen Denunziationen dazu geführt haben, dass ein Familienname auf die Liste gesetzt wurde, war – wenn manchmal auch mit Unbehagen – an der Vorbereitung und Durchführung beteiligt. Während Ausländer und Staatenlose unmittelbar und ohne eine Begründung aus dem Grenzgebiet ausgesiedelt werden sollten, musste für deutsche Staatsangehörige laut Befehl 38/52 eine „angemessene Begründung“ verfasst werden. Bis heute sind zahlreiche dieser Begründungen als wichtige historische Quellen erhalten, die uns heute einen Einblick in den Ablauf der Zwangsaussiedlungen ermöglichen. Wie es bei Johannes Oschlies treffend heißt, „klafft insbesondere zwischen den Vorgaben des Befehls – die Aussiedlung von ,Kriminellen‘, ,Assozialen‘ und Gegner des politischen Systems – und dem, was tatsächlich in den Begründungen stand, eine breite Lücke.“ Unter den Zwangsausgesiedelten waren viele Bauern, Großbauern, Landwirte, Handwerksfamilien, Familienangehörige, die durch die Demarkationslinie getrennt waren, aber auch ehemalige NSDAP-Angehörige waren. Zumeist finden sich auf den Namenslisten Vermerke wie „Gegner der DDR“, „feindliches Element, schlechte Sollerfüllung“ oder „Verbindung zur Verwandtschaft im Westen“.

Im Anschluss an den Rundgang durch das Grenzdort folgte eine Besichtigung der Ausstellung im Grenzmuseum.