„Ein heller und ein dunkler Tag“
Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen hat der 9. November eine ganz besondere Bedeutung, lassen sich doch mehrere historische Ereignisse und sogar epochale Wendepunke mit dem Datum verbinden: Tag der Pogrome von 1938 für die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus, zugleich als Jahrestag der Ausrufung der Republik 1918 und des Mauerfalls 1989 für den mutigen Kampf für Freiheit und Demokratie. „Schicksalstag der Deutschen“ heißt es oft. Aber ist es nicht vielmehr ein ambivalenter Erinnerungstag mit dem zentrale Ereignisse der deutschen Geschichte untrennbar verbunden sind? Zu Recht wirft Burkhard Asmuss die Frage auf, ob man den 9. November tatsächlich als „Schicksalstag“ bezeichnen kann? Impliziert das Wort Schicksal nicht, „dass dieser Tag dem rationalen Handeln von Menschen – und somit auch ihrer Verantwortung – entzogen ist? Kann es überhaupt sein, dass eine gleichsam höhere Instanz – wie eben das „Schicksal“ – die Fäden unserer Geschichte knüpft? Zum Guten wie zum Schlechten?“
Der 9. November ist, wie es Bundespräsident Steinmeier 2018 im Deutschen Bundestag formulierte, „ein Tag der Widersprüche, ein heller und ein dunkler Tag, ein Tag, der uns das abverlangt, was für immer zum Blick auf die deutsche Vergangenheit gehören wird: die Ambivalenz der Erinnerung“
. Wer an 1938 zurückdenkt, hat am 9. November keinen Grund zum jubeln und erinnert sich an einen der dunkelsten Tage in der deutschen Geschichte, dem hunderte jüdische Bürgerinnen und Bürger zum Opfer gefallen sind. Und doch sollte dieser Tag fünfzig Jahre später einen Grund zur Freude geben: Wir erinnern uns an die Worte von Günter Schabowski und die jubelnden Menschen in beiden deutschen Staaten, als am 9. November 1989 die Mauer fiel. Auch heute noch wirkt die Bedeutung des Tages im Zusammenhang mit der friedlichen Revolution von 1989 nach. In der Publikation des Bürgerkomitees „DDR vorbei?“ hat es Dr. Wilhelm Polte als erster demokratisch gewählter Oberbürgermeister von Magdeburg wie folgt ausgedrückt: „Was auch immer noch durch Zeitzeugen und Aktivisten des Umbruchs [von 1989] und über den damit verbundenen Demokratisierungsprozess dokumentiert und berichtet wird, ist wichtig für alles politische Handeln in Gegenwart und Zukunft. Die Geschichte der Deutschen im 20. Jahrhundert lehrt uns, wohin sich ein Land politisch entwickeln kann, wenn es sich dem geschichtlichen Erkenntnisgewinn verweigert und Verdrängungsmechanismen Raum greifen.“
Für die Geschichte unseres Landes trägt jeder von uns nach wie vor Verantworung. Im Hinblick auf die 1989 wiedergewonnene Freiheit bedrückt es uns umso mehr, dass die mutigen Menschen in der Ukraine seit dem 24. Februar um ihre Freiheit kämpfen müssen. Der diesjährige 9. November bietet uns auch Gelegenheit, um dankbar zu sein für die „Gnade des friedlichen Verlaufs der Revolution von 1989“, wie es Michael Kölsch (Initiative „Tag der friedlichen Revolution – Leipzig 9. Oktober 1989“) formulierte, und fordert uns gleichzeitig „zur Solidarität mit all jenen auf, die derzeit im Kampf für die Freiheit ihr Leben riskieren.“